Ganze 21 Jahre und in 1001 Ausgaben erfüllte sie Hörerwünsche: Deutschlands langlebigste Radio-Hitparade - die WDR-Schlagerrallye. Vor allem in den 70ern glänzten nur Radio Luxemburg, der Südwestfunk und der WDR mit einem solchen wöchentlichen Hörer-Wunschkonzert. Wobei sich der Kölner Sender gar zwei Radio-Charts gönnte: Seit 1967 legte DJ-Legende Mal Sondock im Kölner Funkhaus in seiner "Diskothek im WDR" stets die allerneuesten Scheiben auf, ab 1981 dann unter dem Namen "Mal Sondocks Hitparade". Ab Januar 1974 gesellte sich dann eben die WDR-Schlagerrallye mit Wolfgang Neumann dazu. Während Mal eher das Teenie-Publikum bediente, zielte Neumanns Sendung auf einen Hörerstamm von Musikfreunden zwischen 20 und 30 Jahre. Aber wahre Popfans gönnten sich natürlich beide Gelegenheiten vor dem abendlichen Radio, um mittels Kassettenrecorder seltene und neue Stücke mitzuschneiden.
Welch eine Freude, fast schon Lust, sich jeden Samstag ab 19 Uhr vors alte Dampfradio zu hocken und, mit dem obligatorischen Bandgerät bewaffnet, der für unsere Ansprüche hochwertigen Rock- und Pop-Musik zu lauschen, die berühmten zwei Knöpfe des Recorders in Griffweite. Was bis auf die Tage, an denen sich das Tonband mal wieder hoffnungslos im Gehäuse verhedderte, auch gelang. Schade nur, dass Meister Mal oft in die Songs reinsprach, während die Kollegen von der Schlagerallye den Tonbandfreunden Zeit fürs Drücken der Aufnahmentaste ließen.
Schlagerrallye ohne Schlager
Am 5. Januar 1974 war es dann soweit - an diesem Tag ging die allererste Ausgabe der Schlagerrallye über den Äther. Im Kölner Funkhaus legte der Redakteur und Moderator Wolfgang Neumann die ersten 15 Kurzrillen auf. Darunter Single-Platten wie "The Show must go on" von Wuschelkopf Leo Sayer, damals noch im Clownskostüm, das gewaltige Instrumental "Dance with the Devil" mit dem Drummer Cozy Powell und auch "Der kleine Mann von der Straße" vom leider schon verstorbenen Berliner Kabarettisten Ulrich Roski. Gerade in der Anfangszeit der Sendung fanden Liedermacher wie Schobert & Black, Reinhard Mey, Ulrik Remy und eben auch Roski ein offenes Ohr beim Hörer-Publikum. Dies galt ebenso für guten gediegenen Rock à la Status Quo, Uriah Heep und Mott the Hoople. Nicht zu vergessen der bis heute legendäre "Ur-Ur-Enkel von Frankenstein" von und mit dem Berliner Urgestein und Meister der skurrilen Songs, Frank Zander. Ihr seht also: Die Schlagerrallye hatte genauso viel mit Schlagern zu tun wie Politiker mit Ehrlichheit: nämlich nichts!
In späteren Jahren kamen Interpreten des Disco-Sounds zu Wort: Donna Summer, Boney M und Penny McLean. Mit den Jahren kristallisierte sich heraus, dass weniger die üblichen Radiohits (ABBA, Shakin' Stevens, NDW) zum Repertoire der Schlagerrallye gehörten als viel mehr Musiker wie beispielsweise Mike Oldfield, das Electric Light Orchestra und auch die Dire Straits, mit Titeln, die der Popfan vergeblich auf den vorderen Plätzen der deutschen Verkaufscharts suchte. Die Top Ten bestimmte ausschließlich der Zuhörer, in dem er seinen Lieblingstitel aus den 15, ab April 1974 aus 18 Liedern einer Sendung per Postkarte wählen durfte. Der Clou: Die jeweils acht Neuvorstellungen ermittelte eine spezielle Jury, welche wiederum pro Monat aus fünf Hörern bestand. Und für diese Jury konnte sich jeder ebenfalls über eine Postkarte bewerben. Kein Musikredakteur pfuschte ihnen dabei rein. Basisdemokratie, wie sie sein sollte.
Hitparade von und für Hörer
Im Detail: Woche für Woche präsentierte Wolfgang Neumann - nach zehn Jahren 1984 durch seinen Kollegen Wolfgang Roth abgelöst - die aktuelle Top Ten, also die besten zehn Tracks der letzten Hitparade. Dazu gab es erst fünf, dann acht Neuvorschläge. Die Moderatoren erwähnten auch die Plätze 11 bis 15, welche ebenso wiedergewählt werden konnten. Somit schrieb jeder, der mitmachen wollte, seinen Lieblingstitel einfach auf eine Postkarte und schickte diese auf die Reise nach Köln. So ab 1976 führten die Macher der Sendung noch etwas Neues ein: Der letzte Neuvorschlag sollte nicht länger von der fünfköpfigen Jury bestimmt werden, sondern direkt von den Hörern selbst. Daher notierte jeder auf seiner Postkarte noch einen zweiten Wunschtitel - als so genannte "Hörer-Neuvorstellung". Per Losentscheid zogen WDR-Mitarbeiter pro Woche ein Lied, welches der Sender dann als achte Neuvorstellung ins Rennen schickte. Grundsätzlich konnte der Radiofan frei wählen; es existierte nur ein Pferdefuß: Der Titel durfte nicht zuvor schon einmal in der Schlagerrallye platziert gewesen sein.
Was unterschied die Schlagerrallye von der Konkurrenz? Zunächst mal gab es keine zeitliche Begrenzung der platzierten Tracks. Ein Titel fiel erst dann aus den Top Ten, wenn die Hörer ihn nicht mehr wählten. Markante Beispiele: So hielt sich das berühmte "Moonlight Shadow" von Klangtüftler Mike Oldfield gegen 1983/84 immerhin ganze 74 Wochen in der Hitparade. Noch mehr schaffte nur die norwegische Pop-Band a-ha mit "The Sun always shines on TV": Der Song blieb der Schlagerrallye sogar 75 Wochen erhalten. Da mag sich mancher verwundert die Augen reiben und denken: "Was ist das? Ich denke, es ist eine Jukebox mit aktuellen Stücken." Ja, schon. Da aber, so Wolfgang Neumann einst, die Fans der Sendung "nur" aus den vorgestellten Titeln wählen können, beschloss die Redaktion, die Laufzeit eines Songs nicht zu beschränken.
Chance für Außenseiter
Ferner suchten und fanden die Hörer oft sehr seltene Werke bis dato unbekannter Interpreten, die ohne die Sendung nie im Radio gespielt worden wären. Besonders trifft dies auf die Krautrock-Szene zu: Wo sonst wenn nicht hier wäre progressive Musik der Bands La Düsseldorf, Neu!, Grobschnitt und Flaming Bess gelaufen. Unvergessen die anspruchsvollen Werke wie beispielsweise "Silver Cloud", "Rheinita", "Wir wollen leben" und "Tanz der Götter". Der zuletzt genannte Titel der Außenseiter von "Flaming Bess" gelangte auch nur durch die Hintertür in die Schlagerrallye: Die Band aus Düsseldorf mit ihrem instrumentalen Rock-Sound schickte Wolfgang Neumann ein Demo-Tape, welches diesen sehr interessierte: Flugs produzierte Anchorman Neumann mit den Muskerin eine eigene WDR-Sendung, mit Erfolg. Als die Gruppe schließlich im Eigenverlag das Album "Tanz der Götter" veröffentlichte, gab's im Kölner Funkhaus kein Halten mehr. Auf geschlagene 16 Wochen Schlagerrallye brachte es der Titelsong dieser Langrille. Wow!
Gibt es die Schlagerrallye noch? Nein, leider nicht. Der WDR nahm die beliebte Sendung während der Pogrammreform Ende März 1995 aus dem Rennen. Zwar legte der WDR 1-Nachfolger "1 live" mit einer ähnlichen Hitparade nach, welche allerdings rund zehn Jahre später kommentarlos zu Grabe getragen wurde. Jedoch trauern wahre Jukebox-Fans bis heute ihrer geliebten Schlagerrallye nach. Kurz vorm Ende der Sendung lauschte die eingeschworene Fangemeinde dann der so genannten "Ewigen Bestenliste", nach einem internen Punktesystem ermittelt: mit Rekordhalter "Moonlight Shadow" von Mike Oldfield, "The final Countdown" der schwedischen Combo "Europe" und auch der Dauerbrenner "Bohemian Rhapsody" der britischen Edelrocker Queen. Wie auch immer, gewiss hofft mancher, irgendwann feierte diese Hörer-Hitparade beim WDR ein Comeback. Warum auch nicht, im Internet-Zeitalter wäre das Voting-Procedere für den Sender einfach umzusetzen.
Joachim Eiding
Quellen: www.ciao.de - www.hessencharts.de - www.danielhagen.de - www.mysnip.de - www.radiojournal.de - www.die-oldiekiste.de
music4ever.de - Anekdote - Nr. 83 - 05/14