Wie sieht die Zukunft jüdischer Musiker in München und Deutschland aus?
- Herr Winkler, Sie versuchen schon viele Jahre, auf musikalischem Wege die Kluft zwischen den Kulturen zu verkleinern. Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?
Ich habe sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Zuhörer, die sich für eine Richtung oder Kultur begeistern, lehnen oft eine andere komplett ab. Dafür habe ich Verständnis, da ich in meiner musikalischen Ausrichtung ein totaler Grenzgänger bin, der die Grenzüberschreitung liebt, aber nicht jeder kann und mag dem folgen. Ich bin in fast drei Jahrzehnten - mit einem Repertoire von Renaissancemusik angefangen - über Klassik, Folklore und Jazz bis zur freien Musik auf der Bühne gestanden. In meinen Eigenkompositionen fließen all diese Einflüsse gleichberechtigt ein. Komponieren wird so zur greifbar gemachten Erfassung des Lebens um mich herum, wie in mir - denn das sind die Orte, an denen für mich "Weltmusik" entsteht und wo anders sollte "Weltmusik" überhaupt herkommen, wenn wir schon diesen Begriff verwenden? Hinter all dem steht meine tiefe Überzeugung, dass alle Musik eine zusammengehörige Einheit darstellt. Dieses Verständnis scheine ich auch glaubhaft vermitteln zu können, denn im Großen und Ganzen begrüßt ein überwiegender Teil des Publikums bei meinen Konzerten diese lustvollen Grenzüberschreitungen.
- Welche konkreten Projekte verfolgen Sie im Moment?
Im Augenblick mache ich das vom Faktor möglicher Förderungen abhängig. Deshalb bekommt auch derjenige, der Projekte finanziell unterstützt, auch meinerseits den "Zuschlag". Im Gespräch sind multimediale Projekte und die entsprechende Musik zur 850-Jahrfeier der Stadt München, zu der es verschiedene Varianten von meiner Seite gibt und die ich zusammen mit dem Team des jourfixe-muenchen erarbeiten werde. In jedem Fall ist für den Frühsommer die Wiederaufnahme der "Suite Asturiana" geplant - eine Collage über Asturien, die diesen hier weitgehend unbekannten Landstrich Spaniens in Brauchtum, Mythologie, Einspielungen zeitgenössischer Musikinterpretationen wie live dargebotenen Sologitarrenversionen meinerseits nahe bringen soll. Im Mai begehen wir außerdem den 20. Todestag des legendären Jazztrompeters Chet Baker. Wolfgang Lackerschmid, musikalischer Weggefährte seiner letzten Lebensjahre, wird als Vibraphonist und Zeitzeuge live in diesem Projekt mitwirken, an dem ich auch als musikalischer Berater und Klangdesigner mitbeteiligt sein werde. Es gibt noch etliche weitere Pläne - diese hier darstellen zu wollen, würde allerdings den Rahmen dieses Interviews sprengen. Ich würde mich freuen, sobald sie konkretere Formen angenommen haben, an dieser Stelle wieder Rede und Antwort stehen zu dürfen.
- Was bedeutet der Begriff "Sepharad" eigentlich?
"Sepharad" ist ein altes hebräisches Wort für ein Land im westlichen Mittelmeerraum. Die Meinungen der alten jüdischen Gelehrten ging darüber auseinander, ob man es mit dem heutigen Spanien gleichsetzen könne. Nach alten, unbelegbaren Überlieferungen sollen hier die ersten jüdischen Bewohner im sechsten vorchristlichen Jahrhundert nach der Vertreibung aus Juda durch Nebukadnezars Zuflucht gefunden haben. Spätestens aber mit den römischen Legionären kamen im zweiten Jahrhundert vor der Zeitenwende jüdische Handwerker und Händler nach Hispanien.
Vom 9. bis zum 13. Jahrhundert gilt Spanien sogar als das Zentrum der jüdischen Welt. Die offizielle Verbannung seitens der katholischen Könige 1492 - im selben Jahr, in dem Kolumbus die "Neue Welt" entdeckte - sollte einen tragischen Verlust an Kultur, "Know-how" und materiellem Besitz für die iberische Halbinsel nach sich ziehen. Bis in die heutige Türkei wurde der ganze Mittelmeerraum hingegen in dieser Hinsicht durch die Vertriebenen bereichert. Aber auch bis Nordeuropa und eben ins neu entdeckte Amerika gelangten die Sepharden und pflegen zum Teil bis heute ihre Traditionen von damals: Ihre Sprache, ihre Dichtung und Musik - seit mehr als 500 Jahren! Heute sind es noch geschätzte 40 000 - ein Grund mehr, sich für die Erhaltung dieses einzigartigen Erbes einzusetzen und die Schätze dieser Tradition einem größeren Publikum zu Gehör zu bringen. Sie sind im wahrsten Sinn des Wortes ein "Weltkulturerbe".
- Was wollen Sie mit Ihrem Programm "Echos aus Sepharad" bewegen?
"Sepharad" ist eine Metapher, wenn man so will, eine Utopie der friedlichen Koexistenz - mehr noch der Kooperation - unterschiedlicher Kulturen und Religionen. Hier haben wir ein europäisches Urmodell des Begriffes "multikulturell", wobei das sicher kein Nebeneinander der Kulturen war, sondern in vielem ein Miteinander bis hin zu einer einzigartigen Synthese von unterschiedlichen Traditionen - Lessings Ringparabel aus "Nathan, der Weise" mag einem da in den Kopf kommen. Natürlich ist das ein idealistisches Bild; zwischen Christen, Moslems und Juden traten immer wieder Spannungen auf, die sich auf dem Höhepunkt zu Pogromen auswachsen konnten. Doch vom elften bis zum vierzehnten Jahrhundert bekleideten die spanischen Juden höchste Ämter und die "drei Kulturen" lebten in gegenseitiger Befruchtung miteinander. Es gab Schulen, in denen die zentralen Texte abendländischer Geistesgeschichte aus arabischen und hebräischen Quellen erst in die lateinische oder die junge spanische Sprache übersetzt wurden. Von diesem Austausch der Kulturen leben wir zum Teil bis zum heutigen Tag. Hier finden wir die Grundsteine für die moderne Mathematik, Musik, Medizin, Technik und vieles mehr. Die Vernichtung dieser Gesellschaft hat Europa in vielerlei Hinsicht zurückgeworfen. Der katholische Fundamentalismus der damaligen Zeit hätte gerne die Spuren dieses Erbes verwischt, hat dabei aber letztlich den Boden für die Saat der Renaissance und unser modernes Menschenbild bereitet. An all das möchten wir mit unserem Programm "Echos aus Sepharad" erinnern und darüber hinaus auf die aktuellen Parallelen aufmerksam machen: Alle aktuellen Konflikte der drei monotheistischen Religionen hat es schon in "Sepharad" gegeben, aber es gab eben auch das Prinzip des Respekts und des friedlichen Zusammenlebens. Sollte das heute nicht mehr möglich sein? Durch den Krieg in Ex-Jugoslawien in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ging das "Yerushalaim Chicho", das "kleine Jerusalem", so der Name der sephardischen Hochburg Sarajewo, endgültig unter. Doch konnten seine jüdischen Bewohner im Schutz der Uno-Truppen auf den alten Respekt der untereinander verfeindeten Kriegsparteien christlicher wie muslimischer Herkunft rechnen, welche für deren Abzug Waffenstillstand hielten. Auch die Einladung des spanischen Königs Juan Carlos der jüdischen Flüchtlinge ins heutige Spanien ist die Wiederholung der positiven Aspekte der Historie - alles "Echos aus Sepharad".
- Mit welchen musikalischen Mitteln arbeiten Sie?
Allgemein mit allen mir bekannten - und noch zu entdeckenden -, sofern sie mir der Übermittlung eines Inhalts dienlich scheinen. Aus der zuletzt dargestellten historischen Situation von Sarajewo als "kleinem Jerusalem", ergibt sich für mein Verständnis eine Gleichzeitigkeit wie Wiederholung verschiedener Zeitebenen. Auf unserem Planeten gibt es im jetzigen Augenblick Völker, die in ihrer totalen Abgeschiedenheit auf der Kulturstufe von Steinzeitmenschen leben, andere wiederum, und insbesondere deren technokratische Eliten, planen inzwischen die Auswanderung der Menschheit ins All. Und dazwischen gibt es alle Abstufungen von Feudalismus zu Demokratie, von Animismus zu Agnostizismus. Und - was ganz wesentlich ist - alle Formen der Musik stehen uns aufgrund der technischen Reproduzierbarkeit zur hörbaren Verfügung, von der Antike bis zur so genannten Avantgarde, von Afrika bis nach Australien. Das ist in dieser Form in der gesamten Musikgeschichte bisher noch nie so da gewesen, beeinflusst bewusst oder unbewusst aber sicher jeden Musiker, Komponisten und Hörer. Und es erklärt den vielleicht unbekümmert anmutenden Umgang meinerseits mit Renaissancelaute und Synthesizer. Doch gilt für mich immer die Verhältnismäßigkeit "alles an seinem Ort". Viele Interpretationen sephardischer Musik betonen stark die Aspekte des Erbes orientalischer oder mittelalterlicher Musik. Wir haben für "Echos aus Sepharad" eine ganz klassische Besetzung der spanischen Tradition gewählt: Zwei Stimmen, zwei Gitarren, Perkussion.
- Mit welchen Musikern treten Sie dabei auf?
In den letzten Jahren habe ich die große Freude gehabt, außergewöhnliche Musiker - und insbesondere Musikerinnen kennen lernen zu dürfen, die mich sehr dazu inspiriert haben, Neuland zu betreten. Neben treuen Weggefährten wie den Gitarristen Jimi Kelz (Jazz) und Wolfgang Mayer (Klassik & Tango), arbeitete ich mit außergewöhnlichen Interpretinnen wie Jolanta Szczelkun (Akkordeon) und Maschenka (Gesang & Show). An dieser Stelle möchte ich aber besonders Andrea Giani hervorheben, mit der ich das Programm "Echos aus Sepharad" erarbeitet habe. Ihr gesanglicher Ausdruck und ihr Wissen über die Stimme hat mir viele neue Möglichkeiten an und in mir selber eröffnet. Zugleich nahm Andrea viele meiner gitarristischen Anregungen auf, sodass wir bald zu einer klanglichen Einheit verschmolzen. Tatsache ist, dass wir vom ersten gemeinsamen Ton an Musik miteinander gemacht haben und es nie eine "gequälte" Probe gegeben hat. Ebenso mühelos fügte sich als dritter im Bunde der brasilianische Drummer Edir dos Santos in die Runde ein, der mit internationalen Größen aus Jazz und lateinamerikanischer Musik gespielt hatte, bei uns am Schlagzeug einen sehr perkussionsorientierten, intuitiven Zugang zur sephardischen Musik entwickelte.
- Wer war beziehungsweise ist der Träger dieser Veranstaltung?
An dieser Stelle sind zwei Organisationen und zwei außergewöhnliche Frauen zu nennen: Zum einen ist es die "Gesellschaft zur Förderung jüdischer Kultur und Tradition e.V." unter der Leitung von Ilse Ruth Snopkowski, die das Erbe ihres verstorbenen Mannes (seligen Andenkens) Simon Snopkowski unermüdlich fortgeführt und die "Jüdischen Kulturtage München" nun ins 21. Jahr ihrer Erfolgsgeschichte geführt hat. - Wer diese Veranstaltungsreihe je besucht hat, wird bestätigen können, dass die dorthin eingeladenen Vortragenden und Künstler ungemein viel zur Horizonterweiterung und Völkerverständigung beitragen. Ich selber musste mir dabei eingestehen, dass mir zwar die historische Verantwortung meines deutschen Erbteils zwar schmerzhaft bewusst war, aber dass ich doch immer noch viel zu wenig über die Facetten jüdischen Kulturlebens wusste, dass aber gerade dieses Wissen der Garant für ein friedliches und fruchtbares Miteinander von Juden und Nichtjuden in unserer Welt ist. Darum freut es mich umso mehr, ein zweites Mal mit den anderen Beteiligten eingeladen worden zu sein. Der andere Träger der Veranstaltung ist der jourfixe-muenchen, eine Kulturplattform, die sich multimedialen Collagen verschrieben hat, einer künstlerische Ausdrucksform, für die sich seit den legendären Anfangszeiten 1999 im "Nachtcafé" Gaby dos Santos als Leiterin stark macht. Mit ihr arbeite ich seit bald vier Jahren eng zusammen und wir haben in relativ kurzer Zeit etliche Projekte ausgearbeitet. Themenschwerpunkte des jourfixe-muenchen sind Künstlerbiographien und Traditionen ethnischer Gruppierungen. Sie gab auch den Anstoß, in der bestehenden Kooperation mit den "Jüdischen Kulturtagen" die Recherchen für dieses Projekt aufzunehmen. Da ich neben der intensiven Beschäftigung mit der klassischen spanischen Gitarre auch Hispanistik studiert hatte, konnte ich von der Entdeckung der Facetten sephardischen Kultur nur begeistert sein.
- Wie sehen Sie die künstlerische und politische Entwicklung für jüdische Musiker in München und in Deutschland allgemein?
Über die allgemeine Situation jüdischer Musiker in Deutschland vermag ich nur schwer etwas zu sagen. Wovon sie allerdings in beiderlei Hinsicht profitieren dürften, ist das in den letzten Jahren allgemein gewachsene Interesse an jüdischer Musik in all ihren Ausdrucksformen. Gerade die Klezmermusik, die sich selbst wiederum in ungeheurer Vielfalt darstellt, hat in den letzten zwei Dekaden eine große Anhängerschaft in Deutschland gewonnen und erfreut sich nicht-nachlassender Beliebtheit. Hier kenne ich insbesondere zwei Münchner Sängerinnen, eben Andrea Giani, die mit der Formation "Gefilte Fish" kürzlich im Prinzregententheater begeisterte, aber ebenso Andrea Pancur, die beim Gastspiel mit "A Tickle in the Heart" im Gasteig glänzte und mit der Band "Massel-Tov" nicht aus der Münchner Kulturszene wegzudenken ist. Ihr stetiger Erfolg dürfte auch für jüdische Musiker ein aussagekräftiges Barometer sein. Zukunftsweisend finde ich auch das Projekt "Orchester Jakobsplatz", in dem junge jüdische wie nichtjüdische Musiker am Beginn ihrer professionellen Laufbahn zusammenkommen, um Musik jüdischer Komponisten aus Deutschland wie beispielsweise Victor Ullmann oder Erich Wolfgang Korngold aufzuführen. Gerade der persönliche Kontakt trägt dazu bei, Vorurteile oder blankes Unwissen über die Kultur des "anderen" abzubauen und so einen lebendigen Brückenschlag zu ermöglichen. Das, glaube ich, schafft längerfristig haltbarere Grundlagen des Zusammenlebens als die kurzfristig aufputschenden Parolen kurzsichtiger Volksverhetzer.
- Gibt es über diese Veranstaltung auch schon eine CD?
Leider noch nicht. Die Reaktion auf unser Konzert am 20. November 2007 im Gasteig empfanden wir als überwältigend. Da wir in unserer Musik/Textkollage mehr oder minder ohne Pausen zum Klatschen in einem durchspielten und mit einem sehr ruhigen Wiegenlied endeten, wirkte des Schlussapplaus ein wenig verhalten, wie aus einem Gefühl der Ehrfurcht für die dargestellte, sephardische Kultur heraus, wollte aber gar nicht mehr aufhören. Hinterher sprachen uns viele Zuhörer an und betonten, wie berührt sie gewesen seien, wie gerne sie die gesamte Darbietung auf CD mit nach Hause nähmen. Wir werden diese Anregung sicher aufgreifen. Uns selbst ist die Musik der Sepharden mehr und mehr ans Herz gewachsen, ja ein Teil von uns selbst geworden.
- Herr Winkler, danke für das Gespräch!
Die Homepage von Jon Michael Winkler: jourfixe-muenchen.de
Das Gespräch führte Joachim Eiding.
music4ever.de - Interview - Nr. 15 - 12/07-II